Wegen kräftiger Tarifsteigerungen für ihre Beschäftigten geraten viele Träger der Offenen Ganztagsschulen (OGS) in Geldnot. Mitunter bleiben sie auf Mehrkosten im sechsstelligen Bereich sitzen. Die Träger befürchten, ihre Betreuungszeiten verkürzen oder sogar schließen zu müssen. Die Diakonie RWL fordert deshalb einen Rettungsschirm für den Offenen Ganztag.
Noch schätzt sich Julia Othlinghaus-Wulhorst glücklich mit der Nachmittagsbetreuung ihrer beiden Söhne. „Meine Kinder gehen sehr gerne in die OGS“, sagt die Vorsitzende der Stadtschulpflegschaft in Mülheim an der Ruhr. Doch wie viele Eltern in Nordrhein-Westfalen macht sie sich Sorgen, ob das so bleiben wird. Denn wegen der hohen Tarifsteigerungen für die Gehälter ihrer Beschäftigten rutschen derzeit viele Träger des Offenen Ganztags in die tiefroten Zahlen. So fürchten die Diakonie in Mülheim an der Ruhr und andere Träger der freien Wohlfahrtspflege, ihr Angebot reduzieren oder sogar schließen zu müssen. „Es wäre eine Katastrophe, wenn diese Strukturen wegbrechen würden“, sagt Othlinghaus-Wulhorst. „Die Situation ist sehr verunsichernd für die Eltern.“
Wenn die Politik den Offenen Ganztag nicht rettet, müssten bald viele Betreuungsangebote schließen.
„Das, was gerade passiert, ist dramatisch“, bestätigt Birgit Hirsch-Palepu, Geschäftsführerin des Diakonischen Werks im Evangelischen Kirchenkreis An der Ruhr. Auch in der Vergangenheit habe die Diakonie als OGS-Träger wegen der Kürzung der kommunalen Zuschüsse aus eigenen Geldmitteln zuschießen müssen, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und somit auch die Qualität halten zu können. Oft sei es schwierig gewesen, aber man habe immer Lösungen gefunden. „Jetzt bin ich zum ersten Mal ratlos“, sagt Hirsch Palepu, die den Arbeitsbereich Offener Ganztag vor 19 Jahren bei der Diakonie in Mülheim aufgebaut hat. Wenn sich an der Refinanzierung der OGS nichts ändere, müsse die Diakonie über kurz oder lang entscheiden, ob sie sich aus diesem Arbeitsbereich zurückziehe. „Und zwar nicht, weil wir das wollen, sondern weil wir das müssen. Irgendwann ist das Sparbuch leer.“
Das Problem der Träger: Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber im Öffentlichen Dienst hatten sich im August auf einen Inflationsausgleich und eine kräftige Steigerung der Gehälter geeinigt. Diese muss die Diakonie nun an ihre Beschäftigten weitergeben. Das bedeutet erhebliche Mehrkosten für den Betrieb der Offenen-Ganztags-Einrichtungen. Diese werden aber nicht durch höhere Zuwendungen von Land und Kommune ausgeglichen.
Die Diakonie bleibt also als Träger auf dem Großteil der Personalkostensteigerungen sitzen. Allein in diesem Jahr seien das Gehaltsanhebungen um 3,66 Prozent, erklärt Hirsch-Palepu. Diese entstünden durch Zulagen für pädagogisches Fachpersonal, die rückwirkend zum Juli 2022 gezahlt werden müssten. Ab dem 1. März kämen noch einmal Tarifsteigerungen um durchschnittlich zwölf Prozent hinzu. Daneben erhalten die Beschäftigten auch einen Inflationsausgleich. Insgesamt führe das im kommenden Jahr zu Mehrkosten im mittleren sechsstelligen Bereich. „Es liegt auf der Hand: Eine solche Summe können wir nicht an anderer Stelle einsparen.“
„Land und Kommunen müssen jetzt den Offenen Ganztag retten“, sagt Diakonie RWL-Experte Tim Rietzke. Träger bleiben auf massiven Kostensteigerungen sitzen
Die OGS werden vom Land Nordrhein-Westfalen, den Kommunen und durch Elternbeiträge finanziert. Das Land zahlt einen Festbetrag pro Kind, im kommenden Jahr sind das 1.073 Euro pro Platz. Die Kommunen müssen einen Mindestbetrag beisteuern. Manche Kommunen zahlen darüber hinaus aber mehr, um die Qualität ihrer OGS zu sichern. „Wir sind mit Politik und Verwaltung im Gespräch“, sagt Hirsch-Palepu. Es gebe zwar auf allen Seiten Verständnis für die schwierige Lage der OGS-Träger.
Doch mehr Geld wolle keine Seite zusagen. Land und Kommune schöben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Das Landesschulministerium verweise lediglich auf die gesetzlich vorgeschriebene jährliche Steigerung von drei Prozent für die OGS. Diese sei schließlich auch in Jahren ohne hohe Tarifsteigerungen gezahlt worden. Doch die Rechnung gehe nicht auf, erklärt Tim Rietzke, Geschäftsfeldleitung Familie und junge Menschen beim Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL): „Die aktuell massiven Kostensteigerungen bewirken, dass die nur minimalen Erhöhungen wie Kürzungen wirken.“ Die dreiprozentige Steigerung, die die Landesregierung im kommenden Haushaltsjahr für die OGS eingeplant habe, sei zu wenig. „Land und Kommunen müssen jetzt den Offenen Ganztag retten“, fordert Rietzke. Berechnungen der Diakonie RWL haben ergeben, dass ein Rettungsschirm für alle OGS in NRW 100 Millionen Euro umfassen müsste, um die Tarifsteigerungen auszugleichen.
Kinder sollen im Offenen Ganztag nicht nur verwahrt werden, fordert die Stadtschulpflegschaftsvorsitzende Othlinghaus-Wulhorst.
Auch die Mülheimer Stadtschulpflegschaftsvorsitzende Othlinghaus-Wulhorst warnt: „Die Träger müssen jetzt dringend unterstützt werden. Wir können uns nicht leisten, dass sie vor die Wand laufen und aufgeben müssen.“ Viele Eltern hätten Angst, dass die Qualität der OGS deutlich heruntergefahren werde, wenn Träger absprängen. „Wir wollen nicht, dass unsere Kinder nur verwahrt werden.“ Aber genau das befürchten die Eltern. Denn selbst wenn die Stadt Ersatz für die bewährten OGS-Träger finde, sei das keine Lösung. „Das erfahrene Personal wird dann abwandern. Und ich glaube nicht, dass andere Träger zu schlechteren Konditionen ebenso gute Mitarbeiter finden würden.“
Es braucht einen OGS-Rettungsschirm
Tatsächlich sei die Refinanzierung durch Land und Kommune nur dann auskömmlich, wenn die OGS-Beschäftigten unter Tarif bezahlt würden, erklärt Hirsch-Palepu. Das komme aber für die Wohlfahrtsverbände aufgrund der jeweiligen Tarifbindungen nicht infrage. „Wir kommen mit dem Geld nur deshalb nicht aus, weil wir unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern genau dieselben Gehälter zahlen, die auch die Kommune ihren Beschäftigten zahlt“, stellt Hirsch-Palepu klar. Die Diakonie habe viele engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an den Träger gebunden seien. „Zudem haben wir auch aus eigenen Mitteln in Qualifikation und Weiterbildung investiert.“ Es sei nicht zu erwarten, dass dieses erfahrene Personal unter einem anderen Träger zu schlechteren Konditionen arbeiten werde, vermutet Hirsch-Palepu. „Angesichts des Fachkräftemangels finden die sofort wieder eine Stelle, wo nach Tarif gezahlt wird.“
So sieht es auch Othlinghaus-Wulhorst: „Es muss jetzt Geld zur Verfügung gestellt werden und es müssen Gesetze geschaffen werden, die auch die Qualität der OGS sichern“, fordert die Elternvertreterin. Hirsch-Palepu sieht nur einen Weg, wie das System OGS noch gesichert werden kann: „Wir brauchen für die OGS einen Rettungsschirm des Landes Nordrhein-Westfalen nach dem Modell des Rettungsschirms für die Kitas.“
Was fehlen würde, wenn engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die OGS verlassen würden, hat Hirsch-Palepu am 12. Oktober wieder einmal erlebt. An diesem Tag wurde der Mülheimer Grundschule im Dichterviertel zum zweiten Mal der Deutsche Schulpreis verliehen. „Unsere OGS war ein ganz maßgeblicher Teil des Konzepts“, berichtet die Diakonie-Geschäftsführerin stolz. Und als die Kinder bei der Preisverleihung gefragt wurden, was für die das Schönste an der Schule sei, hatten sie eine klare Antwort: die OGS. Das sei auch dem motivierten OGS-Team zu verdanken, sagt Hirsch-Palepu. „Wenn engagierte Menschen mit Herz dabei sind, dann passieren großartige Dinge im Sinne unserer Kinder.“
Text: Claudia Rometsch
- Annika Lante
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