Vor einem Jahr startete das Projekt „Mittelfristige Notfallnachsorge für Kinder und Familien“ (MINI) in Mülheim an der Ruhr, Essen und Oberhausen. Insgesamt 50 Familien hat das Team der Notfallseelsorger seit dem begleitet. Jetzt steht fest: Das Projekt wird fortgeführt.
Sie bieten dann ihre Hilfe an, wenn es nach einem Unfall, einem Brand oder einer schweren Gewalttat wieder ruhig im Wohnzimmer geworden ist: Die Notfallseelsorger des Projekts MINI unterstützen und begleiten Familien und Kinder und wollen damit die Lücke zwischen der ersten Notfallseelsorge und einer möglichen Therapie schließen – mit ganz praktischer Hilfe und mit Unterstützung für die Seele. Ein Jahr nach dem Start des Projekts in Essen, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen legt das Team nun einen ersten Bericht vor – mit Erfahrungsberichten, Erkenntnissen und einem Blick in die Zukunft. Im Interview fassen die Notfallseelsorger Iris Stratmann und Professor Harald Karutz die Ergebnisse zusammen.
Was steht nach einem Jahr unter dem Strich? Wie lautet also die entscheidende Bilanz Ihres Berichtes?
Harald Karutz: Mit diesem Bericht erfüllen wir ein Versprechen. Wir haben von vorneherein gesagt: Nach einem Jahr fassen wir unsere Erfahrungen und Erkenntnisse zusammen – auch mit Blick auf die Spenden, die wir für die Umsetzung des MINI-Projekts erhalten haben. Wir hatten für den Bericht Unterstützung einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin, die Statistiken zusammengefasst und Interviews geführt hat. Herausgekommen ist ein Bericht mit mehr als 100 Seiten. Die Kernerkenntnis lautet: Unser Projekt funktioniert. Der Bedarf ist da und sogar größer als wir ursprünglich eingeschätzt hatten.
Iris Stratmann: Wir erleben, dass die Angehörigen unsere Hilfe sehr dankbar annehmen. Wir sind in einer Lotsenfunktion im Einsatz, um mit Eltern und Kindern die nächsten nötigen Schritte in den Blick zu nehmen und professionelle Hilfe dazu zu holen, wo sie nötig und gewünscht ist. Wir haben die Möglichkeit, den Menschen in diesen schweren Situationen des Lebens ein Stück Sicherheit zu geben. Und wir haben gemerkt: Wir können mit unserer Arbeit helfen. Auch die Notfallseelsorger haben uns zurückgemeldet: Es ist gut, dass es euch gibt.
Wie viele Familien haben Sie im vergangenen Jahr begleitet?
Harald Karutz: Im ersten Jahr hatten wir Kontakt zu 50 Familien in Essen, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen – mit insgesamt 97 Kindern. Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Und selbst als jemand, der seit vielen Jahren mit diesem Thema beschäftigt ist, muss ich nach diesem Jahr sagen: Die Vielzahl und die Qualität der Schicksale, denen wir begegnet sind, hat mich betroffen gemacht.
Iris Stratmann: Wie lange so ein Kontakt zu einer Familie hält, ist ganz individuell. Wir sagen nie: ‚Jetzt ist aber auch mal Schluss.‘ Stattdessen sind wir so lange da, wie eine Familie uns braucht. Manchmal ist das nur ein Treffen, manchmal sind das vier oder fünf Treffen. Und wenn wir gehen, lassen wir immer unsere Telefonnummer zurück, damit die Familien uns kontaktieren können, sobald sie sich ein weiteres Gespräch mit uns wünschen.
Gibt es Lernprozesse, die Sie in diesem vergangenen Jahr durchlaufen mussten?
Harald Karutz: Eindeutig ja. Unter anderem haben wir festgestellt, dass nach Notfallsituationen sehr komplexe rechtliche Probleme oder versicherungsrechtliche Fragen auftauchen können, auf die wir zunächst selbst keine Antworten haben. Wir sind auf viele bürokratische Hürden getroffen, mit denen Familien in diesen Situationen zu kämpfen haben: Das können zum Beispiel Briefe von Ämtern oder Versicherungen sein. Es ist für viele Betroffene völlig aussichtlos, diese Post zu verstehen und zu beantworten. Und hier mussten wir auch unsererseits dazu lernen.
Iris Stratmann: Wir haben uns im Team untereinander über solche Fragen ausgetauscht. Und an vielen Stellen haben wir dann Kollegen aus unserem Umfeld, aus unserem Netzwerk einbezogen: Juristen, Sozialarbeiter, Fachkräfte aus der Verwaltung – und natürlich auch Psychologen und Therapeuten.
Harald Karutz: Eine weitere Lehre aus diesem ersten Jahr: Es ist uns sehr deutlich geworden, wie schwer es Menschen fällt, mit Trauer überhaupt umzugehen. Diese Fähigkeit ist gesellschaftlich kaum noch vorhanden. Manche Menschen wundern sich, wenn sie sich eine Woche nach einem Verlust nicht gleich wieder im Stande fühlen, zur Arbeit zu gehen. Sie haben an sich selbst die Erwartungshaltung, schnell wieder funktionsfähig zu sein. Und dann sind sie besorgt, weil sie womöglich merken: Ich schaffe das gerade gar nicht. Wir beruhigen dann, erklären ganz normale Trauerreaktionen und helfen dabei, mit sich selbst geduldig zu sein. Trauer braucht ihre Zeit, und wir geben Anregungen, wie mit Trauer angemessen umgegangen werden kann. Das gleiche gilt für traumatische Reaktionen. Trauer und Trauma sind ja nicht identisch.
Wie geht es mit dem Projekt weiter?
Harald Karutz: Erfreulicherweise können wir an diesem Punkt sagen: Es geht weiter. Die Versicherer im Raum der Kirche haben mit einer Spende die Fortsetzung des Projekts für mindestens zweite weitere Jahre sichergestellt. Für uns stellt sich natürlich die Frage: Müssen wir das Angebot nicht auf weitere Städte ausweiten, nachdem die Akzeptanz in den drei Städten des Ruhrgebiets so groß ist? Und wir machen uns Gedanken darüber, wie wir die Arbeit noch weiter professionalisieren können. Auf lange Sicht würden wir gerne eine hauptamtliche Stelle schaffen.
Iris Stratmann: Wir sind als Team in diesem Jahr zusammengewachsen. Das ist ein hohes Gut. Es ist wichtig, auch einen Blick auf sich selber zu haben. Denn diese Arbeit macht etwas mit einem. Diese Aufgabe bleibt: Miteinander sprechen und füreinander Gutes tun.
Info: Das „Mini“-Projekt
Iris Stratmann ist Koordinatorin der Notfallseelsorge in Oberhausen und Essen. Harald Karutz ist Professor für Psychosoziales Krisenmanagement an der Medical School Hamburg und Notfallseelsorger in seiner Heimatstadt Mülheim an der Ruhr. Zusammen haben sie das Projekt „Mini“ (Mittelfristige Notfallnachsorge für Kinder und ihre Familien) ins Leben gerufen. Unterstützt werden die beiden von zwei Kolleginnen aus der Notfallseelsorge. „Mini“ wird derzeit in den Städten Mülheim, Essen und Oberhausen angeboten.
Die Seelsorgeangebote der Evangelischen Kirche sind kostenlos und stehen jedem frei. Beratungsangebote finden Sie in Kirchengemeinden und an verschiedenen Orten wie zum Beispiel auch in Krankenhäusern. Und Sie finden sie in unterschiedlichen Formaten – etwa per Telefon oder Mail – und für spezielle Lebensfragen (beispielsweise Familien- und Lebensberatung). Rund um die Uhr für Sie da ist beispielsweise die Telefonseelsorge – anonym, vertraulich und gebührenfrei unter den Telefonnummern 0800 1110111 oder 0800 1110222.
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