Was kennzeichnet die Erfolgsspur, auf der die AfD in den letzten Jahren unterwegs ist? Dieser Frage ging der Bielefelder Soziologe Prof. Wilhelm Heitmeyer in seinem Mülheimer Vortragsabend kurz vor den Europawahlen nach. Der Abend war Teil der Veranstaltungsreihe „Unser Kreuz hat keine Haken“, zu der der Kirchenkreis An der Ruhr vor den Wahlen einlädt.
Weder als „Populisten“ noch als „Nazipartei“ möchte Heitmeyer die AfD charakterisiert wissen: „Ihre Erfolgsspur liegt dazwischen“. Die AfD sei eine Partei vom Typ des „autoritären Nationalradikalismus“. Ihr Werkzeug: das sukzessive Eindringen in die öffentlichen Institutionen, seien es Justiz, Bundeswehr oder Kultureinrichtungen – um diese von innen heraus auszuhöhlen, zu destabilisieren und zu delegitimieren. Ihre Methode: Emotionalisierung der gesellschaftlichen Diskussion, Schaffen von Feindbildern. Ihr Ziel: ein politischer Systemwechsel hin zu einer autoritären Gesellschaftsordnung.
„Die AfD ist nicht plötzlich über uns gekommen“ machte der Bielefelder Soziologe vor den Zuhörenden im Mülheimer Haus der Evangelischen Kirche deutlich. Vielmehr seien es soziale Entwicklungslinien der letzten Jahrzehnte, die den Boden für den autoritären Nationalismus bereitet haben. Eine davon ist die soziale Desintegration „seit es Anfang der 2000er Jahre der Politik nicht gelang, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen“. Eine zweite Entwicklungslinie sei der gefühlte Kontrollverlust von Menschen, die sich in „multiplen Krisenlandschaften“ (von 9/11, über die Bankenkrise bis zum Ukrainekrieg, Inflation und Pandemie) neu zurechtfinden müssen. „Autoritäre und radikale Politikangebote versprechen eine -scheinbare- Wiederherstellung von Kontrolle in diesen Krisen“, so Heitmeyers Erklärung für den Erfolg der politischen Rechten. Den fruchtbaren Boden dafür bereiteten Einstellungen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die die Bielefelder Forscher in empirischer Arbeit mehrerer Jahrzehnte kontinuierlich nachgewiesen hat. Eine „grundlegende Bereitschaft zur Abwertung anderer“ sei in deutlich breiteren Bevölkerungsschichten vorhanden als in der bloßen AfD-Wählerschaft.
Das politische Zündeln der AfD beschreibt Heitmeyer als „Heraufbeschwören von Kontrollverlust-Szenarien“. Das Thema Migration zum Beispiel sei wichtig und Probleme gehörten diskutiert – aber nicht als Untergangsszenario. „Politische Parteien tun gut darin, sich darauf nicht einzulassen“.
Die Option eines Verbotsantrages gegen die AfD sieht der Wissenschaftler nicht als hilfreich an. „Sowohl ein Erfolg als auch ein Misserfolg birgt Gefahren für de Demokratie. Und das Verfahren vom Antrag bis zur Entscheidung zieht sich über einige Jahre – viel zu viel Zeit mit riesigen Mobilisierungschancen für die AfD“. Vielmehr müssen die Zivilgesellschaft „immer wieder zeigen, für welche Werte sie steht. Im Zweifel hilft dabei nicht der Verfassungsschutz.“
Als Hausaufgabe gibt Heitmeyer den demokratischen Parteien auf, „Wahrnehmungslücken zu schließen. Weite Teile der Bevölkerung, besonders im ländlichen Raum, fühlen sich von der Politik nicht gesehen und nicht repräsentiert.“ Und wer sich so fühle, falle leichter auf zu einfache Versprechungen herein.
Bei allen Ansprüchen an die Politik nimmt der Soziologe auch den Einzelnen und die Einzelne in die Pflicht. „Die Zivilgesellschaft muss sehr viel konfliktfähiger werden. Und zwar dort, wo es zur Sache geht. In der Verwandtschaft, unter Arbeitskollegen, im Sportverein oder auch in der Kirchengemeinde gelte es einzuschreiten, wenn abgrenzende und abwertende Sprache verwendet wird. „Man muss situativ einschreiten, sofort. Denn in den nahen sozialen Bezugsgruppen, dort entsteht entscheidend das soziale Klima der Gesellschaft.“
- Annika Lante
- Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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