Demut - die Kunst des Begleitens

Das geistliche Wort | 09.01.2022 | 00:00 Uhr

Autor: „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz,“ so

lautet ein Sprichwort. Ist das so? Kommt Stolz immer hochmütig und dumm daher?

Oder gibt es auch einen gesunden Stolz? Stimmt schon: Manche zeigen diesen selbstgefälligen

Stolz, der sich völlig überschätzt. Der sich mit Erfolgen brüstet, die bei

Weitem nicht so großartig sind, wie er selbst meint. Und dem darum etwas

Lächerliches anhaftet. Es gibt einen Stolz, der die Nase so hoch trägt, dass er

Stolpersteine oder Hindernisse nicht bemerkt. Wenn er dann stürzt oder vor die

Wand läuft, sind ihm Spott und Schadenfreude gewiss. Dumm ist auch jener

falsche Stolz, der sich weigert, dringend benötigte Hilfe anzunehmen, weil er

sich keine Blöße geben und keine Schwäche eingestehen will. „Ach was, ich

brauche keinen Arzt“ – bis dann doch der Notarzt kommen muss, und es

vielleicht zu spät ist.

Wer so denkt und handelt,

schadet in erster Linie sich selbst.

Aber es gibt auch einen Stolz, der anderen

das Leben schwer macht. Der sie verächtlich macht und niederhält. Da ist der Machtmensch

oder Intrigant, der sich in Erfolgen sonnt, die er auf Kosten anderer errungen

hat, und seinen Triumph über sie mit süffisantem Lächeln auskostet. Den

Unterlegenen bleibt dann nur, zu hoffen, dass ein solcher Hochmut doch irgendwann zu Fall kommt. Dass die

scheinbar unerschütterliche Arroganz der Mächtigen eines Tages an ihren inneren

Widersprüchen, ihrem Größenwahn oder schlicht an einem Stärkeren scheitert und

zerbricht. Und dass die Gedemütigten dann letztendlich doch Gerechtigkeit und

Genugtuung erfahren.

Aber nicht jeder Stolz ist

dumm oder hochmütig. Stolz muss sich auch nicht zwangsläufig gegen andere richten. Vielleicht gibt es ja

auch einen ganz gesunden Stolz. Denn irgendwo braucht ja doch jeder etwas,

worauf er oder sie stolz sein kann, oder? Das muss nichts Sensationelles sein,

nichts, womit ich mich als der Beste oder Größte fühle. Sondern einfach etwas,

womit ich mir sagen kann: Das bin ich

oder kann ich, das zeichnet mich aus,

unterscheidet mich von anderen und macht mich zu dem, der ich bin:

handwerkliches Geschick, sportliche Leistungen, kreative Fähigkeiten, ein

besonderes Wissen, beruflicher Erfolg. Manchmal ist es ein besonderes Ereignis,

das stolz macht: eine gelungene Überraschung, eine bestandene Prüfung. – Stolz

auf die eigenen Kinder? Hier zögere ich etwas. Wenn Eltern ihre Kinder loben

und stolz auf sie sind, kann das die Kinder stärken und ihr Selbstbewusstsein

fördern. Aber wenn Kinder oder Jugendliche unter Druck gesetzt werden, nur dem

elterlichen Ehrgeiz zu folgen, kann sie das schwer belasten.

Musik 1: God bless the child

Titel: God bless the child; Komposition: Freddie

Hubbard; Interpreten: Freddie Hubbard, Cedar Walton, Ralph Moore & Vincent

Herring; Album: God bless the child; Label: 1998 Music Masters Inc.; LC: 13701

Autor: In der Bibel ist vom Stolz fast immer in einem

negativen Sinne die Rede. Vom hochmütigen Stolz gottloser Machthaber, die

Gottes Gebote missachten, ihren Reichtum eitel zur Schau stellen, mit Gewalt

herrschen und das Recht der Schwachen mit Füßen treten. Die Stolzen, so heißt

es, sollen gedemütigt und bestraft, ihr Stolz soll gebrochen und vernichtet

werden. Dann können die Gerechten, die unter ihnen gelitten haben, befreit

aufatmen. Ein wahrhaft Gläubiger ist nicht stolz, sondern demütig. So hat es im

Alten Testament der Prophet Micha formuliert:

Sprecher/in:

„Es ist Dir gesagt, Mensch,

was gut ist und was der Herr von Dir fordert, nämlich: tun, was recht ist, Güte

lieben und demütig sein vor Deinem Gott.“

(Micha 6,8 / Übersetzung

Martin Luther, modifiziert durch den Autor)

Autor: „Demütig sein“ klingt heute für viele ziemlich

unterwürfig. Moderne Bibelübersetzungen meiden es daher und geben es durch

andere Formulierungen wieder: „Aufmerksam mitgehen mit Deinem Gott“ oder

„Nichts tun ohne Deinen Gott.“ Das sind durchaus zutreffende und zeitgemäße

Übersetzungen. Der Prophet selbst hat allerdings schon ein klares Oben und

Unten gemeint: die Menschen sollen sich ehrfürchtig unter Gottes himmlische

Majestät unterordnen. Da alle Staaten damals Königreiche waren, hat man sich

auch Gott wie einen König vorgestellt. Aber nicht als himmlischen Tyrannen,

sondern als einen Herrscher, der Gerechtigkeit will. Keine bloß formale Gerechtigkeit

nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern eine, die den Menschen dient und auch

mal Gnade vor Recht ergehen lassen kann. Tun, was recht ist, und Güte lieben:

das ist es, was Gott von den Menschen fordert und woran auch erkennbar sein

soll, wie ernsthaft ihr Glaube ist.

Demut soll nach den Worten

des 1.Petrusbriefes auch in der christlichen Gemeinde den Ton angeben:

Sprecher/in:

„Wahrt im Umgang miteinander

Demut. Denn Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.

So demütigt Euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er Euch zu seiner

Zeit erhöhe.“

(1.Petrus 5,5-6 / Übersetzung

Martin Luther, modifiziert durch den Autor)

Autor: Demut zählt seit je her zu den christlichen Tugenden.

Aber kaum etwas anderes ist auch so schwerwiegend missverstanden und missbraucht

worden. Es gibt nicht nur einen falschen Stolz,

sondern auch eine falsche Demut. Eine

berechnende Demut etwa, die nur

bescheiden daherkommt, um sich damit irgendetwas zu erschleichen. Oder eine

Demut, die nur verkappter Hochmut

ist: eine freundlich lächelnde Fassade, hinter der einer verächtlich auf alle

herabsieht, die nicht so untadelig sind, wie er selbst zu sein glaubt. Und es

gibt diese Demut, die man Untergebenen gepredigt hat, um sie zu beherrschen.

Wer demütig ist, fügt sich. Der begehrt nicht auf. Der rebelliert nicht. Der

stellt keine Forderungen. Der neigt dazu, seine Lage oder das, was ihm

widerfährt, als sein Schicksal oder auch als gottgegeben hinzunehmen. So wird Demut

zum Herrschaftsinstrument, mit dem Menschen gedemütigt werden.

So verstanden ist Demut für

mich ein schwieriges Wort, und ich bin in diesem Sinne auch kein demütiger

Mensch. Demütig sein vor Deinem Gott? Der Gott, an den ich glaube, will niemanden

zu Kreuze kriechen sehen. Er will, dass ich aufrecht vor ihn trete und auch

anderen aufrichtig begegne. Da kann Demut nicht Unterwürfigkeit bedeuten. Um

dieses schwierige Wort anders zu verstehen, möchte ich mal einen Blick darauf

werfen, wie es außerhalb kirchlich-religiöser Zusammenhänge verwendet wird.

Musik 2: D.D. Blues

Titel: D.D.Blues; Komposition: Ricky Ford;

Interpret: Ricky Ford; Album: Hard Groovin‘; Label: Muse Records; MCD 5373

Autor: Vor langer Zeit ist mir das Wort „Demut“ einmal in

einem ganz anderen Zusammenhang begegnet, nämlich in der Musik. Ich habe damals

in einer Band mit einem Trompeter zusammengearbeitet, einem selbstbewussten

Musiker, der gern solistisch hervorgetreten ist und das auch hervorragend

konnte. Einmal hat er mir von Proben für ein Konzert berichtet, in dem er keine

Soli zu spielen, sondern in einem kleinen Ensemble einen Solisten zu begleiten

hatte. Ein Begleiter muss nicht sich selbst, sondern den Solisten in den

Vordergrund stellen, seiner Melodie folgen, sie rahmen, sie untermalen und so

noch verstärken. Als der Trompeter mir davon erzählte, sagte er lachend: „Da

kann man ganz schön Demut lernen.“

Demut als die Kunst des

Begleitens. Gerald Moore war einer der ganz großen Pianisten des 20. Jahrhunderts.

„Bin ich zu laut?“, so hat er seine Lebenserinnerungen überschrieben. Untertitel

„Erinnerungen eines Begleiters“. Moore hat viele weltberühmte Sängerinnen und

Sänger begleitet. Dabei konnte er sogar mühelos höher oder tiefer spielen, als

es in den Noten stand, um sich der Stimmlage oder Tagesform des Sängers optimal

anzupassen. In dieser dienenden Rolle ist er ihnen nie ein bloßer

Klavierknecht, sondern immer ein künstlerisch gleichwertiger Partner gewesen.

Dasselbe gilt auch in der

ganz anderen musikalischen Welt des Jazz, in dem die Improvisation eine

entscheidende Rolle spielt. Was die großen Big Bands spielen, ist natürlich in

Noten aufgeschrieben. Aber in den kleinen Combos hat der Begleiter, zum

Beispiel der Pianist, keine fertigen Noten, sondern nur Buchstaben- und Zahlenkürzel.

Die Akkorde, für die sie stehen, kann er auf ganz verschiedene Weise

zusammensetzen und spielen. Wie er es macht, muss auch er im Augenblick spontan

und intuitiv entscheiden und dabei ganz genau auf den Solisten hören. Ja, er

muss sogar fast schon im Voraus spüren, worauf der Solist hinaus will, um auf

den Punkt genau mit ihm zusammen zu sein.

Musik 3: All Blues

Titel: All Blues; Komposition: Miles Davis;

Interpreten: Freddie Hubbard, Cedar Walton, Ralph Moore & Vincent Herring;

Album: God bless the child; Label: 1998 Music Masters Inc.; LC: 13701

Autor: Solches Begleiten ist eine hohe Kunst. Niemand, der

auch nur ansatzweise etwas von Musik und überhaupt vom Leben versteht, wird

diese Kunst geringer schätzen als die des Solisten. „Da kann man ganz schön

Demut lernen“ – eine so verstandene Demut hat nichts

Demütigendes, Herabwürdigendes an sich. Demut ist die hohe Kunst des

Begleitens. Nicht nur in der Musik, sondern im Leben überhaupt. Zum Beispiel in

der Pädagogik: Kinder zu erziehen heißt ja nicht, sie zurechtbiegen und in

vorgegebene Raster einpassen zu wollen, sondern sie zu begleiten, ihre Begabungen

zu entdecken und zu fördern, sie zu stärken und zu ermutigen und ihnen zu

helfen, ihren eigenen Weg zu finden.

Demut heißt dann: sich selbst

zurücknehmen zu können. Andere gelten

zu lassen, sie zu unterstützen, ihre Leistungen zu würdigen und ihnen die

Anerkennung, die sie dafür erfahren, nicht zu neiden. Es bedeutet, eigene

Grenzen zu kennen und auch bereit zu sein, von anderen zu lernen. In modernen

Management-Konzepten ist das eine wichtige Fähigkeit, die gerade Führungskräfte

brauchen. Dafür wird bisweilen sogar das Wort „Demut“ verwandt. Der

amerikanische Philosophieprofessor Robert Solomon sagt dazu:

Sprecher/in:

„Demut muss nicht erbärmlich

sein; sie ist oft nicht mehr als eine realistische Einschätzung des eigenen

Beitrags und die Anerkennung des Beitrags anderer.“

(Wikipedia-Artikel „Demut“)

Autor: So verstanden heißt Demut: sich als Teil eines

größeren Ganzen, als Teil einer Gemeinschaft zu sehen. In ihr und für sie

Verantwortung zu übernehmen. Mit den eigenen Kenntnissen und Erfahrungen zum

Gelingen des Ganzen beizutragen und die anderen nicht nur als Kulisse für die

eigene Selbstdarstellung zu benutzen. Sich in sachlichen Fragen zu einigen ist

oft deshalb so schwer, weil es genau daran fehlt. Weil es in Wahrheit gar nicht

um die Sache, sondern um persönliche Empfindlichkeiten oder Machtkämpfe geht.

Wer hat hier zu sagen? Wer ist hier der Chef im Ring? Das sind oft die

eigentlichen Fragen, die hinter manchen hitzigen Debatten oder alltäglichen

Rangeleien stehen.

Musik 1: God bless the child

Autor: Natürlich kann ich nicht immer nachgeben und soll es

auch nicht. Manchmal muss ich hart bleiben, muss auf etwas bestehen und klare

Kante zeigen. Aber tue ich das wirklich immer aus gutem Grund, um der Menschen

oder um der Sache willen, für die ich streite

– oder manchmal doch aus eher

zweifelhaften Beweggründen? Aus Eitelkeit? Aus Rechthaberei? Weil ich fürchte,

niemand zu sein, wenn ich nicht diesen oder jenen Rang bekleide oder nicht

ständig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehe?

Demut heißt dagegen: von

solchen Zwängen frei zu sein. Gelassen und mit einer inneren Sicherheit, die es

nicht nötig hat, sich dauernd in den Vordergrund zu drängen und den Beifall

anderer einzufordern. Dazu kann mir auch der Glaube eine große Hilfe sein. Der

Glaube an Gott, der alles Leben erschaffen hat, der das ganze Universum erfüllt

– und der mir zugleich als treuer Freund

und Begleiter zur Seite steht. Wie dieses beides zusammengeht, hat den Dichter

des 8.Psalms in Erstaunen versetzt. Er kann es kaum fassen:

Sprecher/in:

„Wenn ich den Himmel sehe,

das Werk Deiner Hände, den Mond und die Sterne, die Du gemacht hast: was ist

der Mensch, dass Du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass Du Dich seiner

annimmst? Nur wenig niedriger als Dich selbst hast Du ihn gemacht. Mit Ehre und

Herrlichkeit hast Du ihn gekrönt.“

(Psalm 8,4-6 / Übersetzung

Martin Luther, modifiziert durch den Autor)

Autor: Der Dichter verneigt sich ehrfürchtig vor seinem

Gott. Mit einer Demut, die ihn nicht erniedrigt, sondern aufrichtet und ihm

seine menschliche Würde bewusst macht. „Nur wenig niedriger als Gott“ – was

für eine Aussage! So verstehe ich auch die Worte des 1.Petrusbriefes: „Demütigt

Euch unter Gottes Hand, damit er Euch zu seiner Zeit erhöhe.“ Beides geschieht

zugleich, das eine im anderen und durch das andere. „Zu seiner Zeit“ ist nicht

irgendwann, sondern jetzt. Jedes Mal, wenn ich mich an Gott wende. Demütig vor

ihn zu treten heißt: mit leeren Händen vor ihn zu treten –

nicht kniefällig oder unterwürfig, sondern aufrecht und frei – und gewiss,

ihm nichts beweisen zu müssen, sondern von ihm als der Mensch bejaht zu sein,

der ich bin.

Dieser Glaube stärkt mich

darin, auf das stolz zu sein, worauf ich mit Recht stolz sein kann, und mich

auch über die Anerkennung zu freuen, die ich dafür erfahre. Zugleich bewahrt er

mich davor, mich ständig mit anderen zu vergleichen und mein Selbstwertgefühl

davon abhängig zu machen, besser, größer oder stärker zu sein als sie. Mit Ehre

und Herrlichkeit hat Gott uns Menschen gekrönt

– so heißt es in Psalm 8. Mit

diesem Glauben fällt mir so schnell kein Zacken aus der Krone, die Gott mir

verleiht. So kann ich in der Rolle des Begleiters hinter anderen zurücktreten,

sie fördern, ihnen zum Erfolg verhelfen und darin auch selbst Zufriedenheit und

Erfüllung finden. Und vielleicht auch die Anerkennung derer, die die hohe Kunst

des Begleitens zu würdigen und zu schätzen wissen.

Musik 4: Chisa

Titel: Chisa; Komposition: ist Abdullah Ibrahim; Album: Abdullah

Ibrahim & Ekaya: African River; LC 3126

Autor (overvoice): Einen entspannten Sonntag und ein gut begleitetes

Jahr 2022 wünscht Ihnen Pfarrer im Ruhestand Johannes Doering aus Unna.

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 9.1.2022
  • Johannes Doering
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