Mit Gästen aus Kirche, Stadtgesellschaft und Politik, mit einem geistlichen Impuls rund um Friedens-Begegnungen, mit einem Festvortrag von Prof. Dr. Harald Karutz über Kindheit in Krisenzeiten und nicht zuletzt mit der Verleihung des Ökumenischen Hoffnungspreises feierten die evangelische und Katholische Kirche in Mülheim ihren Neujahrsempfang. Mit dem Hoffnungspreis wurden in diesem Jahr die ehrenamtlichen Akteur*innen der „Lila Feen“ geehrt, die mit ihrem Engagement Alleinerziehende entlasten (siehe dazu separate Presseinformation). Die musikalische Gestaltung übernahm John Losmann-Albrecht mit populären Melodien am Klavier.
Friedens-Botschaften zum Advent
Zu Friedens-Begegnungen „mit drei großen biblischen Adventsgestalten“ lud Stadtdechant Michael Janßen die Empfangsgäste in der Mülheimer Petrikirche ein. Zum Nachdenken über den Propheten Jesaja, der schon vor 3000 Jahren die Ursachen von Unfrieden benannte: Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und auch individuelle Unnachgiebigkeit. Persönliche Umkehr, Bereitschaft zur Kurskorrektur, das sei das Stichwort Johannes‘ des Täufers gewesen. „Wie anders sähe die Welt aus, wenn jeder damit bei sich anfinge?“, so Stadtdechant Janßen. Er schloss mit dem Appell Marias, die in ihrem Lied, dem „Magnificat“, weitaus revolutionärer singt, als man es der vermeintlich lieblichen Krippenfigur zutraut. Maria singt von einem Gott der Benachteiligten und Bedrängten, der die Hungernden beschenkt und die Arme öffnet für diejenigen, die aus Not aus ihrer Heimat fliehen. Janßens Appell in Anlehnung an die biblische Maria: „Seid die Stimme derer, deren Schrei nach Hilfe im Getöse dieser Gesellschaft untergeht.“
Vortrag: „Kinder und Kindheit in Zeiten von Krisen und Kriegen“
Stärker auf die Stimmen der Kinder und Jugendlichen selber zu hören, anstatt nur über sie zu reden, das war eine der Forderungen, die Notfallpädagoge Prof. Dr. Harald Karutz als Festredner einbrachte. Um das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in Krisenzeiten ging es in seinem Vortrag (Manuskript hier). Vielen der Anwesenden war der Redner gut bekannt. Prof. Karutz engagiert sich im Mini-Projekt der Notfallseelsorge (Mittelfristige Notfallnachsorge für Kinder und ihre Familien) und hat während der Coronapandemie das psychosoziale Krisenmanagement der Stadt Mülheim geleitet.
In seiner Vortrag nahm Karutz eine Bestandsaufnahme zu „Kindheit in Krisenzeiten“ vor und warf Schlaglichter auf das, was auch unter schwierigen Umständen Hoffnung macht. Verlässliche Schutzräume für junge Menschen, individuelles Ernst-Nehmen und Persönlichkeitsbildung über Englisch-Mathe-Deutsch hinaus, das sei es, was jungen Menschen helfe, in Krisenzeiten eigene Ressourcen zu aktivieren, so Harald Karutz. Den kritischen Blick auf gesellschaftliche Versäumnisse in dieser Hinsicht lieferte er gleich mit. Wie angesichts dieser empirisch gesicherten Befunde Etatkürzungen in Budgets für Kinder und Familien vorgenommen werde, sei nicht nachzuvollziehen.
Rund ein Drittel der Kinder in Deutschland, so zitierte Prof. Karutz aus Erhebungen, sind durch die Pandemie wesentlich beeinträchtigt, Angst und Essstörungen sowie Depressionen haben zugenommen. Besonders gilt das für die Kinder, die ohnehin von Armut und schwierigen sozialen Umständen betroffen sind – davon gibt es in der Ruhrstadt mehr als im Bundesdurchschnitt.
Krisen hätten sicherlich auch vergangene Generationen von Kindern und Jugendlichen erlebt, aber die mediale Dauerpräsenz potenziert die Krisen-Dosis, die gesellschaftliche Dynamik wirke heute stärker als in vergangenen Tagen, in denen die soziale Resilienz womöglich mehr Rückhalt bot.
Was ist zu tun? „Schutzräume bieten“, hob Redner Prof. Karutz hervor. Kinder müssten Beständigkeit und Verlässlichkeit erfahren, wenn die gefühlte Unsicherheit größer wird. „Wir müssen ermächtigen und ermutigen, in und mit Krisen zu leben“, so Karutz. Dafür brauche es Bildung über den klassischen Lehrplan hinaus: Improvisationsfähigkeit und Flexibilität, die Fähigkeit zu historischem Denken, Liebe zur Natur, Gemeinschaftssinn, zu erkennen, dass es mehr gibt als „schwarz“ und „weiß“, Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme und nicht zuletzt so etwas wie „Glücksfähigkeit“! Mehr als je zuvor benötigten Kinder außerdem Medienkompetenz.
In der Schule fehle oft die Zeit, Kinder als Individuen wahrzunehmen und gezielt fördern und unterstützen zu können. Karutz: „Ängste und Sorgen von Kindern und Jugendlichen sollten meines Erachtens jedenfalls deutlicher gesehen, anerkannt und vor allem: ernst genommen werden.“ Um den Kindern gerecht zu werden, gelte es, zusätzlich ihre Ressourcen, ihre Widerstandskraft und ihre Kreativität wahrzunehmen.
Was gibt Kindern und Jugendlichen in Krisenzeiten Hoffnung? Prof. Dr. Harald Karutz nannte Hoffnungslichter:
- Hoffnung geben Erwachsene, die Kinder aus ihrer eigenen Lebens- und Krisenerfahrung heraus beruhigen und Optimismus verbreiten.
- Hoffnung geben Ehrenamtler und Fachkräfte, die Kinder zuverlässig trösten, stärken und die ihnen zeigen, welche Perspektiven und Möglichkeiten es für sie gibt.
- Hoffnung vermitteln erfreuliche politische Entscheidungen: Der Stärkungspakt NRW trage zur Entlastung vieler Familien bei
- Hoffnung entstehe – auch und gerade hier in Mülheim – durch die Arbeit in den Vereinen und Kirchengemeinden, in denen Kinder Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Vielfalt und Inklusion erfahren.
- Hoffnung bereiten vor allem aber Kinder und Jugendliche selbst, die sich engagieren: Für Umweltschutz, in der Politik, als Streitschlichter, als Schulsanitäter, als Jugendgruppenleiter, als Nachwuchstrainer und vieles andere mehr – auf jeden Fall als Menschen, die Kriege, Krisen und Katastrophen nicht einfach hinnehmen wollen.
- Hoffnung entstehe nicht zuletzt durch einen Blick weit voraus – auf das, was nach Krieg und Krise kommt.