Der so freundliche wie prachtvolle Saal lässt nicht erahnen, wie viel Leid junge Schüler 70 Jahre zuvor an diesem Ort erfahren mussten. Wo heute die Musikschule Moers Konzerte veranstaltet, befand sich damals der Speisesaal des im April 1953 nach dem Zweiten Weltkrieg wiedereröffneten evangelischen Alumnats (Schülerheims) Martinstift . Dort haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Bergischen Universität Wuppertal und der Fachhochschule Potsdam am Donnerstag, 30. März 2023, die Ergebnisse ihrer Studie zu den Erfahrungen der Schüler mit schwerer körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt zwischen 1953 und 1955 vorgestellt.
„Aufarbeitung der gewaltförmigen Konstellation der 1950er Jahre im evangelischen Schülerheim Martinstift im Moers“ lautet der Titel des Forschungsprojekts von Professor Fabian Kessl und Dr. Fruzsina Müller (Wuppertal) sowie Professorin Friederike Lorenz-Sinai und Svenja Bluhm (Potsdam). Die gut 130 Seiten umfassende Studie ist die erste auf dem Gebiet der Evangelischen Kirche im Rheinland zum Themenfeld sexualisierte Gewalt und wurde neben der rheinischen Kirche vom Evangelischen Kirchenkreis Moers, der Evangelischen Kirchengemeinde Moers und dem Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe finanziert.
Leiter Johannes Keubler 1956 zu acht Jahren Haft verurteilt
Im Martinstift wohnten in den 1950er Jahren etwa 70 Jungen zwischen zehn und 20 Jahren. Sie besuchten das Gymnasium Adolfinum in Moers. Hauptverantwortlich für die Gewaltakte war Johannes Keubler, erster Alumnatsleiter nach der Wiedereröffnung am 1. April 1953 bis zu seiner fristlosen Kündigung am 4. Februar 1955. Keubler wurde am 18. Mai 1956 vor dem Landgericht Kleve zu acht Jahren Freiheitsstrafe wegen „Unzuchtshandlungen“ in 136 Fällen verurteilt.
Imageschaden für das Martinstift sollte vermieden werden
Die Studie geht aber auch der Frage nach, wie die Gewalt strukturell begünstigt wurde. So beförderte der Trägerverein das Vergessen nach dem Gerichtsurteil und wies jede Verantwortung von sich. Die betroffenen Schüler erfuhren keinerlei Unterstützung und auch kein Interesse an ihrer Perspektive – weder seitens der Kirche und Diakonie noch in den meisten Fällen seitens ihrer eigenen Familien. Im Vordergrund stand stattdessen das Bemühen, das Image des Alumnats und der Diakonie nicht zu beschädigen. 1969 wurde das Martinstift endgültig geschlossen. Erst im Jahr 2019 rückte es durch Meldungen ehemaliger Schüler und Anträge auf Anerkennungsleistungen wieder ins Bewusstsein.
Verblüffende Ähnlichkeit zu aktuellen Gewaltkonstellationen
Die wissenschaftliche Aufarbeitung habe die Gewaltakte einerseits deutlich in den Kontext der 1950er Jahre eingeordnet, so Professor Kessl. „Auf der anderen Seite besteht eine verblüffende Ähnlichkeit mit Gewaltkonstellationen der jüngeren Geschichte.“ Die Kinder hätten sich auf die verantwortlichen Erwachsenen nicht verlassen können. „Aus der Ungleichheit zwischen Erwachsenen und Jugendlichen erwächst eine besondere Verantwortung. Am Martinstift haben die Erwachsenen diese Ungleichheit aber ausgenutzt.“ Und die zuständigen Institutionen seien ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen. Namentlich verwiesen die Forschenden auf Dr. Otto Ohl, den stellvertretenden Vorsitzenden des Trägervereins und Mitbegründer der modernen Diakonie. „Seine Bemühungen richteten sich vor allem auf die Verhinderung des öffentlichen Interesses“, kritisierte Historikerin Müller.
Sieben Erwartungen an die Adresse der Kirche
Gerhard Stärk, einer der Betroffenen, die die Aufarbeitung in Gang gesetzt hatten, äußerte Erleichterung: „Ein erstes Ziel ist erreicht. Die Landeskirche hat diese wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben. Das Jahrzehnte währende Schweigen hat so endlich ein Ende gefunden.“ Sein Freund Michael Nollau erinnerte daran, dass die einstigen Martinstift-Bewohner allesamt Kriegskinder gewesen seien. Das Versprechen einer christlichen Erziehung sei aber nie eingehalten worden. Stärk formulierte abschließend sieben Erwartungen an den weiteren Umgang mit den Studienergebnissen: eine breite Information der Öffentlichkeit; die Erarbeitung eines Regelwerks zur Verhinderung von Missbrauch im kirchlichen Raum; die enge Verknüpfung von Einrichtungen der Kirche und Diakonie mit den örtlichen Gemeinden; eine Entschuldigung bei den Opfern, verbunden mit dem Angebot von Entschädigungszahlungen und Recherchen zu den unbekannt verzogenen Betroffenen; eine Änderung des Anerkennungsverfahrens; die Einrichtung eines Lehrstuhls für Missbrauchsstudien; und schließlich die Einrichtung einer Berufshaftpflichtversicherung und Schiedsstelle zur Regulierung von Missbrauchsfällen. (Die Stellungnahme der beiden Betroffenen finden Sie hier zum Nachlesen. )
Vizepräses dankt den Betroffenen für ihre Initiative
Vizepräses Christoph Pistorius unterstrich die Notwendigkeit der Studie: „Betroffene haben ein Recht auf Aufarbeitung. Punkt.“ (Das Statement von Vizepräses Pistorius zum Nachlesen. ) Beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitende seien schuldig geworden als Täter*innen, Mitwissende, Wegschauende und Vertuschende. „Strukturen und Kulturen in Kirche und ihrer Diakonie haben dies begünstigt, auch im Fall des Martinstifts in Moers.“ Zu dieser Schuld bekenne man sich. „Dass auch nach dem Gerichtsprozess die Kinder und ihre Familien alleine gelassen wurden, ist durch nichts zu rechtfertigen und unverzeihlich.“ Der Vizepräses wandte sich auch direkt an die anwesenden Betroffenen: „Dass Sie beide nach all diesen Erfahrungen auf uns zugekommen sind und mit uns gemeinsam die gewaltförmige Konstellation der 1950er Jahre im Martinstift aufgearbeitet haben, erfüllt uns einerseits mit großer Dankbarkeit. Und es beschämt uns auch angesichts unserer eigenen jahrzehntelangen Untätigkeit.“
Leitungsgremien beraten am 4. Mai über die Konsequenzen
Pistorius kündigte an, dass Kirchenleitung, Kreissynodalvorstand, Presbyterium und Diakonievorstand im Rahmen eines Workshops am 4. Mai daran arbeiten werden, welche Konsequenzen aus dem Forschungsbericht zu ziehen sind. Darüber werde die Öffentlichkeit dann auch unverzüglich informiert.