Vom Zählen und Messen

Sonntagskirche | 09.01.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen!

Als Kind habe ich mit bunten

Murmeln Zählen gelernt. Wie viele habe ich meiner Faust? Bis zu vier durften

drin sein. Hatte mein Freund richtig geraten durfte er alle Murmeln behalten,

die ich in der Hand hatte. Hatte er falsch geraten, musste er die Differenz

ausgleichen – und ich umgekehrt. So lernten wir das Zählen, Vergleichen und

Messen ganz spielerisch. Beim Basteln lernten wir Formen zu unterscheiden, auch

Längen und Breiten. Selbst beim Backen mussten wir die Zeit messen, damit die

Plätzchen nicht schwarz wurden. Ohne Zählen und Messen können wir den Alltag

nicht bewältigen und die Welt nicht verstehen. Für Erwachsene hört das Zählen

und Messen nie auf, weder beim Tempolimit noch bei Urlaubstagen und Überstunden

und erst recht nicht beim Geld, beim Auskommen mit dem Einkommen. Eigentlich

zählen und messen wir rund um die Uhr, auch wenn wir’s gar nicht mehr

wahrnehmen.

Und doch ist das Wesentliche

im Leben nicht messbar. Nicht messbar, wieviel Liebe in einem Kuss ist, wieviel

Verlässlichkeit in einer Freundschaft, wieviel Trauer in einer Träne, nicht

messbar, wieviel Entsetzen aus einem Alptraum kommt, wieviel Fassungslosigkeit

aus einem Schicksalsschlag, wieviel Trost aus einem guten Wort. Wie auch

ehrfürchtiges Staunen unter einem Sternenhimmel nicht messbar ist, nicht die

ausufernde Freude beim Torjubel, oder die grenzenlose Erleichterung nach

überstandener Gefahr. Alles unberechenbar. Und was unberechenbar ist, geht nun

mal nicht auf in einem Wieviel.

Als Kinder haben wir das

gelebt. Wir konnten selbstvergessen ins Spiel versinken und die Zeit Zeit sein

lassen. Als Kinder tauchten wir ein mit Haut und Haar in die Geheimnisse des

Lebens und spürten ihnen nach.

Wie anders tickt unsere Erwachsenenwelt. Da haben Zahlen

das Sagen allüberall. Quer durch die Medien werden wir tagtäglich überhäuft mit

Daten, Diagrammen, Werten. Davon sind manche bestimmt wichtig, wie die

Blutwerte beim Arzt, die Impfraten in der Pandemie, die Zahlen vom

Arbeitsmarkt, vielleicht auch das Politbarometer und manches mehr. Aber müssen

wir wirklich wissen, wieviel Suppe im Durchschnitt konsumiert wird, oder

wieviel Popcorn man mit mitnehmen darf in ein Flugzeug? Gar ratlos macht mich

die Statistik, wie oft 55-Jährige heutzutage Sex haben. Geht’s beim Sex

wirklich um ein „Wie oft“, ums Zählen und Messen? Oder geht’s ums Erleben, um

Hingabe, ja, um ein geheimnisvolles Versinken mit einem geliebten Menschen.

Ob Winterabende mit Freunden,

Naturerlebnisse, Musik: Wo das Leben noch geheimnisvoll ist, gibt es

Augenblicke, in die wir versinken und dann die Zeit vergessen, wie früher als

Kinder. Augenblicke,

die die Grenzen des Alltags weiten, mich im Innersten berühren und eine

geheimnisvolle Tiefe des Lebens zum Leuchten bringen.

Es sind

Augenblicke, die ich wieder wachrufen kann, von ihnen zehren in trüben Tagen.

Augenblicke, in denen ich Gott auf der Spur bin, dem Geheimnis der Welt, aus

dem ich lebe, webe und bin.

Einen

gesegneten Sonntag wünsche ich Ihnen.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

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  • 9.1.2022
  • Alfred Buß
  • © CCO Pixabay
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