Guten Morgen!
Als Kind habe ich mit bunten
Murmeln Zählen gelernt. Wie viele habe ich meiner Faust? Bis zu vier durften
drin sein. Hatte mein Freund richtig geraten durfte er alle Murmeln behalten,
die ich in der Hand hatte. Hatte er falsch geraten, musste er die Differenz
ausgleichen – und ich umgekehrt. So lernten wir das Zählen, Vergleichen und
Messen ganz spielerisch. Beim Basteln lernten wir Formen zu unterscheiden, auch
Längen und Breiten. Selbst beim Backen mussten wir die Zeit messen, damit die
Plätzchen nicht schwarz wurden. Ohne Zählen und Messen können wir den Alltag
nicht bewältigen und die Welt nicht verstehen. Für Erwachsene hört das Zählen
und Messen nie auf, weder beim Tempolimit noch bei Urlaubstagen und Überstunden
und erst recht nicht beim Geld, beim Auskommen mit dem Einkommen. Eigentlich
zählen und messen wir rund um die Uhr, auch wenn wir’s gar nicht mehr
wahrnehmen.
Und doch ist das Wesentliche
im Leben nicht messbar. Nicht messbar, wieviel Liebe in einem Kuss ist, wieviel
Verlässlichkeit in einer Freundschaft, wieviel Trauer in einer Träne, nicht
messbar, wieviel Entsetzen aus einem Alptraum kommt, wieviel Fassungslosigkeit
aus einem Schicksalsschlag, wieviel Trost aus einem guten Wort. Wie auch
ehrfürchtiges Staunen unter einem Sternenhimmel nicht messbar ist, nicht die
ausufernde Freude beim Torjubel, oder die grenzenlose Erleichterung nach
überstandener Gefahr. Alles unberechenbar. Und was unberechenbar ist, geht nun
mal nicht auf in einem Wieviel.
Als Kinder haben wir das
gelebt. Wir konnten selbstvergessen ins Spiel versinken und die Zeit Zeit sein
lassen. Als Kinder tauchten wir ein mit Haut und Haar in die Geheimnisse des
Lebens und spürten ihnen nach.
Wie anders tickt unsere Erwachsenenwelt. Da haben Zahlen
das Sagen allüberall. Quer durch die Medien werden wir tagtäglich überhäuft mit
Daten, Diagrammen, Werten. Davon sind manche bestimmt wichtig, wie die
Blutwerte beim Arzt, die Impfraten in der Pandemie, die Zahlen vom
Arbeitsmarkt, vielleicht auch das Politbarometer und manches mehr. Aber müssen
wir wirklich wissen, wieviel Suppe im Durchschnitt konsumiert wird, oder
wieviel Popcorn man mit mitnehmen darf in ein Flugzeug? Gar ratlos macht mich
die Statistik, wie oft 55-Jährige heutzutage Sex haben. Geht’s beim Sex
wirklich um ein „Wie oft“, ums Zählen und Messen? Oder geht’s ums Erleben, um
Hingabe, ja, um ein geheimnisvolles Versinken mit einem geliebten Menschen.
Ob Winterabende mit Freunden,
Naturerlebnisse, Musik: Wo das Leben noch geheimnisvoll ist, gibt es
Augenblicke, in die wir versinken und dann die Zeit vergessen, wie früher als
Kinder. Augenblicke,
die die Grenzen des Alltags weiten, mich im Innersten berühren und eine
geheimnisvolle Tiefe des Lebens zum Leuchten bringen.
Es sind
Augenblicke, die ich wieder wachrufen kann, von ihnen zehren in trüben Tagen.
Augenblicke, in denen ich Gott auf der Spur bin, dem Geheimnis der Welt, aus
dem ich lebe, webe und bin.
Einen
gesegneten Sonntag wünsche ich Ihnen.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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