Präses Dr. Thorsten Latzel: „Wir lassen die Menschen nicht allein“

Erster Bericht vor der Landessynode der rheinischen Kirche

Düsseldorf. „Menschen offen, liebevoll begegnen. Trotzig und getrost auf Gott hoffen. Und unsere Zukunftsaufgaben mutig gestalten.“ Das sind für Dr. Thorsten Latzel Grundzüge eines protestantischen Lebens in Zeiten des Umbruchs. „Menschenfreundlichkeit, Hoffnung auf Gott und Mut zur Gestaltung – das macht unseren evangelischen Glauben aus“, sagte der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland in seinem ersten Bericht vor der Landessynode.

Zum ersten Mal erstattete der 51-jährige Theologe der Landessynode, dem obersten Leitungsgremium der 2,3 Millionen Mitglieder starken Kirche, die sich vom Niederrhein bis ins Saarland erstreckt, seinen „Bericht über die für die Kirche bedeutsamen Ereignisse“. Zu diesen zählte im Jahr 2021 die Flutkatastrophe, die große Teile des Kirchengebiets in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli getroffen hat. „Da ist etwas zerrissen, hat Spuren hinterlassen. Bei vielen Menschen. Auch bei mir. Was im Sommer letzten Jahres geschehen ist, hat auch mich verändert, meinen Glauben. Das Leiden, die Zerstörung ganzer Orte – aber auch die faszinierende Nähe und Hilfsbereitschaft.“ Allein im Ahrtal sind rund 150.000 Menschen von der Katastrophe betroffen. Viel Hilfe stehe noch aus. Nach Expertenschätzungen haben 15.000 von ihnen eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. „Zu den zentralen Aufgaben von uns als Gemeinden und Kirchen in den nächsten Jahren wird daher gehören: nachgehende Seelsorge, diakonische Beratung und eine heilende Erinnerungskultur. Wir lassen die Menschen nicht allein.“

Begegnungskultur und nachgehende Seelsorge stärken

Gerade im Blick auf die Flutkatastrophe sei ihm die seelsorgliche Dimension des Kircheseins noch einmal besonders wichtig geworden, so Präses Thorsten Latzel am Morgen vor den Abgeordneten der 37 Kirchenkreise, die noch bis einschließlich Donnerstag digital tagen. Weil Kirche eine seelsorgliche Gemeinschaft von Geschwistern, eine caring community ist, „ist es uns nicht egal, wie es einander geht“, sagte Latzel: „Ich glaube, dass wir im Blick auf die Zukunft diese Begegnungskultur weiter stärken sollten. Den Kontakt zu allen Mitgliedern unserer Gemeinden und zu jedem Menschen, der Hilfe braucht. Wir brauchen eine nachgehende Seelsorge; einen Glauben mit menschlichem Angesicht; eine Kirche, die sich selbst konsequent von dem Kontakt zu den Mitmenschen her versteht.“

Corona-Pandemie erschwert den Blick auf den Mitmenschen

Um diesen Kontakt gehe es auch, weil Menschen Beziehungswesen sind. „Wir haben unsere Mitte nicht in uns selbst, sondern außerhalb unserer selbst: in Gott und in unserem Nächsten. Nicht in einem Spiegel erkennen wir uns. Wirklich erkennen können wir uns erst im Angesicht der anderen – und vor allem daran, wie Gott uns erkennt.“ Glaube habe deswegen viel mit einer besonderen Begegnungskultur zu tun, konstatierte der Präses: „Im Angesicht jedes anderen begegnen wir einem einmalig erschaffenen, gottgeliebten Menschen – und in ihr oder in ihm zugleich Christus selbst. Das heißt Glauben. Die Pandemie ist für uns auch deswegen ein Problem, weil sie dieses Sich-von-Angesicht-zu-Angesicht-sehen erschwert. Die Masken sind medizinisch notwendig. Mit ihnen verlieren wir aber den Blick auf den Mitmenschen und zugleich den Bezug zu uns selbst.“

„Nicht länger Bock, sondern Gärtner im Garten Eden sein“

Aufgabe von Kirche sei es, „trotzig und getrost auf Gott zu hoffen und den Menschen seelsorglich und diakonisch zu helfen, mit der eigenen Verletzlichkeit umzugehen“. Zum anderen bestehe die Verantwortung darin, mit eigenem Handeln als Kirche konsequent gegen den Klimawandel anzugehen. „In der Vernichtung von Tier- und Pflanzenarten, in der Vermüllung der Meere, in der Abholzung von Regenwäldern, in der Veränderung des Klimas sehen wir, wie grundverkehrt unsere alltägliche Lebensweise ist. Nein, wir werden nicht die Schöpfung retten. Was für eine menschliche Hybris! Die Schöpfung, die Welt als Gesamtheit ist uns entzogen, zum Glück. Ihre Rettung ist Sache Gottes. Unsere Aufgabe ist es, in unserem Lebensbereich Gottes Schöpfung nicht weiter zu zerstören und zu ihrer Bewahrung beizutragen: nicht länger Bock, sondern Gärtner im Garten Eden zu sein. Und wir sollten dies tun, auch wenn wir wüssten, dass wir die letzte Generation Menschen wären. Die Schöpfung hat einen Wert in sich, auch jenseits unseres anthropozentrischen Denkens“, machte der rheinische Präses deutlich. Es gehe darum, auf allen kirchlichen Ebenen ökologisch glaubhaft zu handeln.

Thema Hoffnung als Wegbegleiter seit dem Amtsantritt

Das Thema Hoffnung habe ihn im vergangenen Jahr seit seiner Einführungspredigt im März 2021 in der Düsseldorfer Johanneskirche begleitet. Gerade angesichts von Corona, Flut, Klimawandel und der darin neu erfahrenen Verletzlichkeit spielt die Frage nach dem Grund der Hoffnung Latzel zufolge eine zentrale Rolle. So brauche Hoffnung einen starken „letzten Grund“ außerhalb ihrer selbst – Gott. Sonst werde sie naiv und verkomme zum bloßen positiven Denken. Thorsten Latzel weiter: „Ich bin überzeugt: Es ist unsere Aufgabe im Sinne einer ,öffentlichen Seelsorge‘, so von Gott als letztem Grund einer solchen Hoffnung zu reden. Das meint nicht, dass wir als Kirche die Antwort auf alle Fragen hätten. Aber wir leben aus einer Perspektive, die uns hilft, mit den großen Herausforderungen unserer Zeit anders umzugehen. Wir bringen dabei Gott nicht zu den Menschen, sondern wir entdecken Gott bei den Menschen. Gott ist immer schon da. Wir halten die Frage nach Gott wach.“

Wie sieht Kirche in der Zukunft aus?

Wie die Institution Kirche in zehn, 20 oder 30 Jahren aussehe, sei nicht sicher, machte Latzel deutlich: „Einige Perspektiven lassen sich jedoch durchaus erkennen. Deutlich ist, dass Institutionen gerade in Zeiten großer Veränderungen eine wichtige, stabilisierende Rolle spielen können. Dies ist aber sehr davon abhängig, inwiefern sie sich dabei selbst als wandlungsfähig erweisen.“ Es werde daher zukünftig nicht um das Kürzen des Bestehenden gehen, sondern um ein Neugestalten, um einen wirklichen Systemwechsel. „Wir erleben bereits jetzt an vielen Orten eine Überlastung von Gemeinden und Presbyterien. Unfruchtbar sind daher bloße Verteilkämpfe: Wer bekommt wie viel vom kleiner werdenden Kuchen ab? Ebenso unfruchtbar ist ein Denken in alten Vorstellungen wie parochial versus funktional oder im Dual von ,denen da oben‘ und ,uns hier unten‘. Die Herkunft einer Idee sagt nichts über ihre Richtigkeit, und wir brauchen schlicht jede gute Idee. Wichtig für unsere presbyterial-synodale Kirche ist eine klare Machtverteilung, die sich von den Mitgliedern in den Gemeinden her konstituiert – und zwar von allen Mitgliedern.“ Dabei sei es aber problematisch, dass Teilhabe nur noch beschränkt funktioniere, konstatierte der Präses: „Wir bilden in unseren Presbyterien und Synoden eben vor allem die zehn Prozent ab, die mit dem Status quo etwas anfangen können. Die anderen 90 Prozent hören wir schwächer oder gar nicht. Deshalb ist es gut, wenn wir wie bei den Bürgerforen im Kirchenkreis Düsseldorf, beim ,KirchenMorgen‘ in Solingen oder auch bei dieser Tagung neue Formen der Beteiligung erproben. Auch die Erprobungsräume sind ein wichtiges Experimentierfeld, um neue Zugänge zu Kirche und Gemeinde zu eröffnen.“

Jungen Menschen mehr Raum geben

Mit dem Positionspapier E.K.I.R. 2030 habe die neu gewählte Kirchenleitung früh ein klares Zeichen setzen wollen, dass man den tiefgreifenden Wandel von Kirche aktiv mitgestalte – in Form von konkreten Projekten. So sollen Presbyterien durch digitale Wahlen gestärkt und von Verwaltung entlastet werden. „Sie sollen sich eben 90 Prozent ihrer Zeit auf die geistlichen, kommunikativen, konzeptionellen Aufgaben konzentrieren können.“ Auch die Zusammenarbeit in Regionen der großen Evangelischen Kirche im Rheinland soll zum Beispiel durch mehr Anstellungsmöglichkeiten von Pfarrerinnen und Pfarrern auf Kirchenkreisebene und durch die Stärkung der Arbeit in multiprofessionellen Teams gefördert werden. Und: „Jeden Menschen, gleich ob Jung oder Alt, wollen wir ansprechen. Junge Menschen zwischen 20 und 40 Jahren sind nur besonders betont, weil sie die Altersgruppe sind, die wir am stärksten verlieren – und weil sie zentral sind für die Weitergabe christlichen Glaubens in die nächste Generation“, unterstrich Latzel. „Dazu müssen wir ihnen mehr Raum geben, etwa auf den Kanzeln, und Bereiche wie Kita-Arbeit stärken, weil sie einen besonderen Kontakt zu jungen Familien bieten. Hier brauchen wir vernetzte Trägerschaften – in guter Verbindung mit den Gemeinden vor Ort.“

Menschenfreundlichkeit, Hoffnung auf Gott, Mut zur Gestaltung

Menschenfreundlichkeit, Hoffnung auf Gott und Mut zur Gestaltung machten den evangelischen Glauben aus. „Und darin wollen wir uns gemeinsam stärken: mit verletzlicher Zuversicht und trotziger Zärtlichkeit – in Mystik und Widerstand, mit Gebet und Engagement“, so Latzel abschließend. „Dazu helfe uns Gott.“

Präsesbericht von Dr. Thorsten Latzel: „Wir lassen die Menschen nicht allein“ am 19. Januar 2022

  • 19.1.2022
  • Jens Peter Iven
  • Red