Was ist der Mensch?

Kirche in WDR3 | 30.12.2021 | 00:00 Uhr

Guten

Morgen!

Er sitzt immer an

derselben Stelle. Die, die regelmäßig vorübergehen, kennen ihn. Er hockt auf

einer schmuddeligen Decke. Es ist nachts immer noch empfindlich kalt. Sein

Gesicht sieht man kaum, weil er den Kopf fast immer gesenkt hält. Man sieht nur

struppige graue Haare. In drei großen Plastiktaschen befindet sich offenbar

sein ganzes Hab und Gut, und vor sich hat er einen zerknautschten Kaffeebecher

stehen. Ab und zu liegt etwas Kleingeld darin. Die meisten Passanten achten

nicht auf ihn. Macht jemand eine Bemerkung, dann ist sie in aller Regel

unfreundlich, verurteilend. „Der soll sich doch schämen.“ – „Der versäuft ja

doch alles, was er einnimmt“. Der Mann selbst sagt nie etwas, bewegt sich

nicht, sieht fast aus wie schon gestorben.

Eines frühen Morgens sitzt er nicht da, sondern er liegt. Liegt auf der Seite,

auf den kalten Steinplatten des Fußweges, regungslos, leicht zusammengekrümmt.

Es dauert lange, bis sich jemand die Zeit nimmt, stehenzubleiben, sich

herunterzubeugen und ihn an der Schulter zu fassen. „Aufstehen, Mann, Sie holen

sich ja den Tod!“ sagt er drängend. Aber der Wohnungslose reagiert nicht. Dem

Passanten kommt die Bewegungslosigkeit allzu starr vor. Er tastet unter den

vielen Kleidungsstücken nach dem Puls des Mannes und erschrickt. Zu seiner

Erleichterung sieht er auf der anderen Straßenseite zwei Männer, die neugierig

herübergucken. Eilig läuft er zu ihnen und sagt: „Können Sie mir bitte helfen?

Wenn mich nicht alles täuscht, ist der Mann da drüben tot.“ „Na, vielleicht nur

betrunken?“ sagt einer von ihnen lachend. Aber das Lachen vergeht ihm, als er

den Liegenden berührt. „Ruf bitte einen Krankenwagen“, bittet er den anderen.

Während der zu seinem Handy greift, fasst er behutsam in die Manteltasche des

Bettlers und zieht eine zerfledderte Brieftasche hervor. Tatsächlich steckt ein

Ausweis darin. Bernd Hartmann, 14. April 1972. „Noch keine fünfzig, aber er

sieht aus wie siebzig“, murmelt er. Außer dem Ausweis ist nur noch so etwas wie

ein Stückchen Karton in der Brieftasche. Er zieht es heraus. Es ist ein

Kinderfoto. Ein kleiner, bildhübscher blonder Lockenkopf, vielleicht

vierjährig, ist zu sehen. Irgendwo im Süden am Meer. Er hat nur eine Badehose

an und hält einen großen Ball unter dem Arm. Mutter oder Vater hat das Bild

wohl gemacht. Der Kleine strahlt über das ganze Gesicht. Lächelnd betrachtet

der Helfer das Foto. „Niedlich“, denkt er. Unwillkürlich dreht er das Bildchen

um und sieht, dass noch etwas darauf steht. „Unser ganzer Stolz, Bernd, an

seinem vierten Geburtstag, Teneriffa, 14. April 1976.“ – „Mein Gott“ –

fassungslos blickt er auf den verwahrlosten Mann mit seinen schmutzigen Sachen

und den ungepflegten Haaren, mit dem verwüsteten Gesicht. Sein Blick irrt

zurück zu dem Kinderbild. Kein Zweifel: Es ist ein Bild des Toten. Was liegt

wohl alles zwischen diesen beiden Gesichtern! Wieviel Leid, wieviel Schuld hat

es in diesem Leben gegeben, eigene und die anderer Menschen, bis aus dem

fröhlichen Kind dieser verzweifelte Mann geworden ist… Er steht noch immer

regungslos, als der Krankenwagen neben ihm bremst und ein Arzt herausspringt.

Dann geht er ein paar Schritte und denkt: „Gott, erbarme dich all deiner

Menschenkinder! Lass sie nicht umkommen in ihrer Not, sondern hilf ihnen, zu

einem Leben zu finden, wie du es für sie gedacht hast.“

In der Bibel lese

ich, was Jesus gesagt hat: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder oder

Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40)

Einen guten Tag wünscht Ihnen Ihr Pfarrer Michael

Opitz aus Düsseldorf.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

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  • 30.12.2021
  • Michael Opitz
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