Guten Morgen,
manchmal hast du keine Chance. Du bist geknickt. Da hilft auch nicht das
gut gemeinte „Kopf hoch“ der Freundin. Du schleichst durch den Tag, den Blick
gesenkt, die Schultern hängen und irgendwie fühlt sich der Körper bleischwer
an. An meiner Körperhaltung ist meist schon zu erkennen, wie es mir geht.
Lange, bevor ich irgendetwas gesagt habe. Das gehört wohl einfach zum Leben
dazu. Das lese ich schon in einem alten Gebet, in Psalm 38, in der Bibel.
(Psalm 38,7, Luther 2017) „Ich gehe krumm und sehr gebückt,“ steht da. „…den
ganzen Tag gehe ich traurig einher.“
Charlie Brown sagt einmal in einem Comic: „Wenn du deprimiert bist, ist
es ungeheuer wichtig, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Das Verkehrteste, was
du tun kannst, ist aufrecht und mit erhobenem Kopf dazustehen, weil du dich
dann sofort besser fühlst.“
Also doch: Kopf hoch?
Mit Charlie Brown probiere ich es aus: Kopf hoch. Oder wie eine
Tanzlehrerin uns einmal mitgab: Geht mal nach dem Unterricht aufrecht und stolz
durch die Straßen. Ihr werdet sehen, da ändert sich was. Ihr fühlt euch anders.
Die anderen reagieren anders auf euch. Also: Einfach mal machen. Und siehe da: Manchmal
klappt der Trick. Aufrecht gehen, den Blick nach vorn – und merken, wie sich
das auf meine Stimmung auswirkt. Tatsächlich. Positiv!
Man kann auch 60 Sekunden vor dem Spiegel stehen und sich anlachen oder
lächeln und an nichts denken. Das hat die bereits verstorbene
Motivationstrainerin Vera F. Birkenbihl einmal empfohlen. Die
Lachmuskeln melden dem Gehirn gute Laune und tricksen so das Denken aus. (1) Das
alles sind tolle kleine Übungen, die es mir für den Moment leichter machen.
Mein Körper hilft der Seele, etwas von der Last abzugeben.
Bei schwerwiegenderen Traurigkeiten ist das ein
Tropfen auf den heißen Stein.
Ich lese ein Gedicht in meinem neuen Kalender:
Leta Semadeni aus der Schweiz hat es geschrieben.
„Flohmarkt“
Ich verkaufe meine Traurigkeit
auf dem Flohmarkt
ausgebreitet vor mir
wie ein Stück Stoff.
„Oh, happy day!“, singt das Radio.
„Oh, happy Day!“
Es regnet
aber bald scheint die Sonne
und dann wird wohl einer kommen
und meine Traurigkeit kaufen
um ein Sommerkleid
draus zu machen
(Leta Semadeni) (2)
Meine Traurigkeit ausbreiten und zum Verkauf anbieten. Sie ist nichts,
was ich einfach aus meinem Leben streichen muss. Im Gegenteil. Aus ihr lässt
sich noch was machen. Vielleicht sogar ein Sommerkleid. Ein schönes Bild hat
die Dichterin hier entworfen. Einer, der die ausgestellte Traurigkeit gekauft
hat, ist Jesus. Er geht durch die Straßen und in die Häuser und nimmt die
Traurigkeit wahr. Er schaut sie an wie einen guten Stoff. Mal samtig in melancholischen
Lilatönen, mal braun und grau wie ein ängstlicher kleiner Spatz oder ein scheuer
Igel im Garten, mal dunkelblau wie ein glitzerndes Tränenmeer, mal rot wie ein
Blutstropfen aus einer frischen Wunde. Jesus wischt die Traurigkeit nicht weg.
Er seufzt mit. Er weint sogar mit. Und hört genau hin. Ist einfach da.
„Jesus kennt die Herzen“, heißt es in der Bibel. „Und er weiß, was dieses Leid
für jeden einzelnen in diesem Haus bedeutet.“ Und dann bleibt er. Zwei ganze
Tage. (3) Aus meiner Traurigkeit
ein Sommerkleid machen. Meine Traurigkeit gehört zum Leben. Sie ist nichts, das
ich verstecken muss. Wir können uns unsere Traurigkeiten zeigen und wer weiß,
vielleicht schaut eine hin oder einer und bleibt und sucht sich eine meiner
Traurigkeiten aus , näht und stickt was drauf und macht mir daraus einen neuen
Schal für den Frühling.
Einen guten
Start ins neue Jahr wünscht Ihnen,
Petra Schulze,
Rundfunkpfarrerin in Düsseldorf.
(1) https://www.derwesten.de/panorama/60-sekunden-lachen-diese-frau-wird-bei-facebook-gefeiert-id12136158.html (Abruf 28.12.2021)
(2)
Aus: Leta Semadeni/ Madlaina Janett, Marchà da pülschs: Tulpen, Tulipanas.
Illustration: Madlaina Janet. Nachwort Rico Valär, 2019 SJW, Schweizerisches Jugendschriftenwerk,
Zürich.
(3) Johannes 11,1-45
https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/57138_WDR3520220111Schulze.mp3